Was ist schlimm daran, wenn wirtschaftsnahe Verbände Unterrichtsmaterialien anbieten? Sozial- oder Umweltverbände machen das auch.
Hedtke: Der entscheidende Punkt ist, dass dieses Netzwerk versucht, den Unterricht mit einseitig gefärbten Schulmaterialien zu beeinflussen. Dafür haben wir viele Beispiele gefunden. Da wird ein sehr konservatives Verständnis der sozialen Marktwirtschaft verbreitet. Da lernen Schüler, dass die Leistungsverteilung über die Märkte schon in Ordnung ist. Dass wir zu viel Sozialstaat haben, zu viele Sozialleistungen. Das ist meines Erachtens nichts anderes als der Versuch ideologischer Einflussnahme.
Haben Sie ein konkretes Beispiel für solche einseitigen Unterrichtsmaterialien?
Hedtke: Die Wirtschaftszeitung „Handelsblatt“ führt beispielsweise mit dem Oldenburger Institut für ökonomische Bildung das Projekt „Handelsblatt macht Schule“ durch. Sie flankiert das mit bundesweit gestreutem Unterrichtsmaterial. Zum Thema Wirtschaftsordnung findet man darin aber nur Informationen von Wirtschaftswissenschaftlern, die eine konservativ-liberale Auffassung von der sozialen Marktwirtschaft haben: Sie propagieren möglichst wenig Staat, möglichst wenig Sozialleistungen, einen möglichst freien Markt. Das aber sind Meinungen, die als Wissenschaft getarnt, verkauft werden. Alternative Positionen, selbst Hinweise darauf, sucht man vergeblich. Ich finde das manipulativ – vielleicht nicht von der Motivation, aber im Ergebnis.
Um solche Manipulationen im Schulunterricht zu vermeiden, wurde bereits in den 1970-er Jahren der so genannte „Beutelsbacher Konsens“ erarbeitet...
Hedtke:: ...und dieser Konsens wird durch ein solches Vorgehen unterlaufen. Der Beutelsbacher Konsens verlangt, dass das, was in Wissenschaft und Politik kontrovers diskutiert wird, auch in der Schule kontrovers behandelt wird. Und die Frage, wie die soziale Marktwirtschaft aussehen soll, ist kontrovers: Etwa wie stark der Staat Einkommen und Vermögen umverteilen darf. Mit dem Beutelsbacher Konsens sollten Schülerinnen und Schüler auch die Möglichkeit bekommen, einen eigenen Blick auf Wirtschaft und Politik zu entwickeln. Das ist unmöglich, wenn ihnen nur eine Position vorgegeben wird.
Die Schulen in Deutschland sind chronisch schlecht ausgestattet. Ist es da nicht gut, wenn private Geber mit eigenem Material in die Bresche springen?
Hedtke:: Ich akzeptiere ja, dass Lobbyorganisationen ihre Interessen vertreten. Das gehört zur Demokratie. Auch dass sie Unterrichtsmaterialien anbieten ist legitim. Es muss aber dafür gesorgt werden, dass einseitige Unterrichtsmaterialien nicht einfach unkritisch bis zum Klassenzimmertisch der Schülerinnen und Schüler durchgereicht werden.
Wird das in Deutschland nicht kontrolliert?
Hedtke:: Eigentlich wäre es Aufgabe der Schulministerien, sicherzustellen, dass einseitige Materialien nicht in den Unterricht gelangen und damit zu einseitigem Wissen, einseitiger Bildung und einseitigen Einstellungen führen. Aber den Schulministerien und -ämtern fehlt dafür der Blick. Oder sie wollen nicht hinschauen, weil sie Konflikte mit großen Unternehmen und einflussreichen Lobbyorganisationen scheuen.
Sieben Lehrerinnen und Lehrer untaugliches Material nicht aus?
Hedkte: Doch, aber eine Garantie dafür gibt es nicht. Lehrkräfte mit sozialwissenschaftlicher Ausbildung können mit einseitigen Manipulationsversuchen sicher kompetent umgehen. Aber: Gerade Fächer wie Politik und Wirtschaft werden sehr oft fachfremd unterrichtet, von ausgebildeten Historikern oder Geografen etwa. Und denen fehlt das sozialwissenschaftliche Rüstzeug, um sich distanziert mit solchen Materialien auseinanderzusetzen. Sie wissen oft schlicht nicht, dass es andere Positionen gibt. Woher auch? Außerdem stehen Lehrerinnen und Lehrer unter enormen Zeitdruck. Das führt häufig dazu, dass sie angebotene Materialien ohne kritische Prüfung einsetzen.
Was folgt daraus für die Ausbildung künftiger Lehrerinnen und Lehrer?
Hedtke:: Wir müssen sicherstellen, dass Lehramtsstudierenden in der Volkswirtschaftslehre oder Politikwissenschaft kontroverse Positionen vermittelt werden. Dass sie in ihrer Ausbildung Multiperspektivität und Kontroversität als zentrale didaktische Prinzipien kennenlernen.
Das Interview führte der Berliner Journalist Thomas Wischniewski im Auftrag der Online-Redaktion von verbraucherbildung.de.