Wirtschaft ist längst an Schulen angekommen – in Form von Unternehmen und Verbänden, die mit kostenlosen Unterrichtsmaterialien an die Schulen drängen. Eine gute ökonomische Bildung sieht anders aus, meint Professor Tim Engartner. Der Sprecher der Gesellschaft für sozioökonomische Bildung und Wissenschaft (GSÖBW) kritisiert, dass Schulen zu Werbeplattformen werden. Häufig bleibt es dann an den Lehrern hängen, die Qualität der Materialien zu prüfen.
(lmi) Es läuft etwas schief im Fach „Politik und Wirtschaft“ in Hessen. Die Landesschülervertretung hat eine Pressemitteilung aufgesetzt, in der sie fordert, das Angebot in den Fächern Politik und Wirtschaft viel stärker am realen Geschehen zu orientieren, um „bei jungen Menschen wieder Begeisterung für die Teilhabe am gesellschaftlichen Diskurs zu wecken“. Zum anderen fordert die Schülervertretung, die Zusammenhänge zwischen den einzelnen Bereichen deutlicher zu machen. Konkret heißt es in der Pressemitteilung, die Landesschülervertretung könne sich vorstellen, „die Fächer Erdkunde, Geschichte und Politik zum Fach Gesellschaftslehre zusammenzufassen“.
Der neu gewählte Landesschulsprecher Fabian Pflume erklärt, wie er die Probleme derzeit wahrnimmt: „Ich finde, auch zur Wirtschaft gehört das globale Denken: Was bedeutet es, wenn ich ein T-Shirt für zwei Euro beim Discounter kaufe? Und warum wird der Klimawandel nur in Erdkunde behandelt, wenn doch auch wirtschaftliche und politische Komponenten eine Rolle spielen. Dieses vernetzte Wissen ist in einer globalisierten Welt extrem wichtig.“ Nur so könnten Schüler auch Verantwortung übernehmen und lernen, Sachverhalte kritisch zu hinterfragen.
Dieser Forderung würde sich wohl auch Tim Engartner anschließen. Er ist Sprecher der 2016 gegründeten „Gesellschaft für sozioökonomische Bildung und Wissenschaft“, die sich für die Erneuerung ökonomischer Bildung an Schulen sowie für eine Pluralisierung der wirtschaftswissenschaftlichen Lehre einsetzt. Er spricht sich deshalb deutlich gegen ein Partikularfach Wirtschaft aus: „Wie ich einen Mietvertrag abschließe oder eine Steuererklärung abgebe, wie und welche Versicherung ich abschließe – all das lerne ich zu gegebener Zeit nach der Schule. Bestenfalls wird ökonomische Bildung in der Schule also nicht als separates Fach verstanden, sondern eingebettet in historische, gesellschaftliche, politische und kulturelle Frage- und Problemstellungen. Denn Schülerinnen und Schüler nehmen die Wirklichkeit ja auch nicht disziplinspezifisch wahr“, so der Professor für Didaktik der Sozialwissenschaften im Interview.
Einfluss privater Akteure
Im Moment sieht Engartner außerdem noch eine andere Gefahr in Bezug auf ökonomische Bildung an Schulen: der immer stärker werdende Einfluss von Unternehmen auf Unterrichtsinhalte. Von „Indoktrinationsinitiativen“, die in den Schonraum Schule drängen, schreibt er in einem Artikel. Seine Sorge: „Wenn nun private Akteure in Form von Unternehmen, unternehmensnahen Stiftungen und Lobbyverbänden an die Schulen herantreten, unterminieren sie diesen staatlichen Bildungsauftrag, weil sie natürlich ganz gezielt ihre Inhalte in teilweise tendenziöser und manipulativer Absicht dort versuchen zu verbreiten.“
Die Beeinflussung reicht dabei von Schulheften mit Firmenlogos über kostenlose Unterrichtsmaterialien und gesponserte Sportfeste bis hin zu Mitarbeitern von Firmen, die in die Klassen kommen. Laut der Wirtschaftswissenschaftlerin Eva Matthes bieten 16 der 20 umsatzstärksten deutschen Unternehmen Schulmaterialien an – oft im Paket mit Fortbildungsangeboten für Lehrer. Tim Engartner zitiert auch die PISA-Studie, laut der schon im Jahre 2006 mehr als 87 Prozent der 15-Jährigen hierzulande eine Schule besuchten, an der Industrie und Wirtschaft Einfluss auf die Lehrinhalte ausüben.
Direkte Werbung sei an Schulen in den meisten Bundesländern natürlich verboten, so Engartner, doch unter dem wachsenden finanziellen Druck hätten sich die Schulen doch immer wieder der Wirtschaft geöffnet, so dass inzwischen Sponsoring erlaubt sei. Die Grenzen zwischen Schulsponsoring und Werbung sind dabei häufig fließend. So sei es den Unternehmen möglich, ihre Weltsicht zu präsentieren, Kunden an sich zu binden und eventuell sogar zukünftiges Personal zu rekrutieren.
Fabian Pflume kann dieses Problem, das Tim Engartner beschreibt, aus eigener Erfahrung bestätigen: „An meiner früheren Schule, einer integrierten Gesamtschule, gab es den Wahlkurs ‚NFTE - Wie du ein Unternehmen startest und erfolgreich machst‘. Das dazugehörige Heft war voller Marken und Logos. In den Aufgaben stand dann nicht ‚Lisa kauft 20 Flachen Wasser‘, sondern ‚Lisa kauft 20 Flaschen Coca-Cola mit dem Rabatt, den Edeka anbietet‘.“ Dieses spezielle Heft gibt es zwar inzwischen nicht mehr an den Schulen, aber für den Landesschulsprecher war es damals ein Schock: „Ich finde es krass, dass Unternehmen auf so eine uneingeschränkte Art und Weise mitbestimmen können, was in Schulen passiert.“
Schüler wünschen sich auch praktisches Wissen
An einer Stelle widerspricht der Landesschulsprecher Tim Engartner jedoch. Er würde sich eine praktischere Ausrichtung des Faches „Politik und Wirtschaft“ durchaus wünschen, um später nicht völlig ahnungslos vor dem ersten Mietvertrag oder der ersten Steuererklärung zu stehen. Dafür setzt sich die Landesschülervertretung ebenfalls ausdrücklich ein – ebenso wie der Bankenverband. Seit über 30 engagiert sich der Verband für eine bessere ökonomische Bildung an Schulen. „Wir sind der Meinung, dass junge Leute ein solides Grundgerüst an solider Bildung brauchen, wenn sie die Schule verlassen, um sich in der Welt zurechtzufinden, um ihr Leben eigenverantwortlich in die Hand zu nehmen“, erläutert Anke Papke das Motiv des Engagements gegenüber dem „Deutschlandfunk“.
Die Jugendstudie des Bankenverbandes aus dem Jahr 2015 zeige, dass sich gut 81 Prozent der Jugendlichen und jungen Erwachsenen mehr "Wirtschaft in der Schule" wünschen würden. Deshalb, so Papke, biete der Bankenverband Unterrichtsmaterialien zum Thema Wirtschaft allgemein an, ebenso wie spezielle Materialien zur Finanzbildung. Darüber hinaus organisiert der Bankenverband zusammen mit der Europäischen Bankenvereinigung (EBF) seit 2016 die European Money Week, die laut eigener Aussage dazu beitrage soll, europaweit das Finanzwissen von Schülerinnen und Schülern zu verbessern.
Tim Engartner möchte solche Aktionen und Bemühungen gar nicht per se verteufeln: „Grundsätzlich ist es natürlich erfreulich, wenn Jugendliche Bildungsangebote wahrnehmen. Punkt.“ Er warnt dennoch insgesamt davor, den Ausschnitt auf die Wirtschaft in der Schule nicht zu eng zu wählen. Ökonomische Bildung werde häufig verkürzt auf finanzielle Bildung oder auch auf sogenannte "Entrepreneurship Education". Zudem gebe es leider auch immer wieder negative Beispiele von Unternehmen, die klar interessengeleitet mit Material an die Schulen drängten.
Tipps für Lehrerinnen und Lehrer
Dass es den Unternehmen überhaupt möglich ist, Einfluss auf den Unterrichtsinhalt zu nehmen, dafür sieht Tim Engartner klare Gründe: Zum einen seien die sinkenden Schulbuchetats daran schuld, die dafür sorgten, dass Lehrer immer häufiger zu aktuellen, kostenlosen und hochwertig produzierten Unterrichtsmaterialien privater Bildungsanbieter greifen würden – Materialien, die anders als Schulbücher keinem Prüfverfahren unterliegen. Zum anderen fehlten noch immer umfassende Curricula zu ökonomischen Sachverhalten an Hochschulen.
Solange die Politik jedoch nicht einschreitet, sind wieder einmal die Lehrkräfte selbst in der Pflicht. Eine repräsentative Umfrage des Verbraucherzentrale Bundesverbandes aus dem Jahr 2016 zeigt, dass 72 Prozent der befragten Lehrerinnen und Lehrer der Meinung sind, sie seien selbst für die Prüfung der Inhalte von Unterrichtsmaterialien verantwortlich. Genauso viele der Befragten (72%) sagten aber auch, dass sie keine Zeit haben für die Qualitätsprüfung von Unterrichtsmaterialien aus der Wirtschaft. 70 Prozent der Lehrkräfte fänden daher ein einheitliches Qualitätssiegel hilfreich.
Tim Engartner hat ein paar Tipps für den Schulalltag: „Lehrer müssen vor allem Gratis-Angebote systematisch daraufhin prüfen, wer eigentlich Urheber und Autor der Unterrichtsmaterialien ist. Das ist Punkt eins. Punkt zwei ist, dass sich Lehrerinnen und Lehrer eigenständig und unabhängig über ökonomische Sachverhalte informieren müssten, zum Beispiel über die Lektüre einschlägiger Tages- und Wochenzeitungen.“ Und noch ein dritter Punkt ist dem Professor für Didaktik der Sozialwissenschaften wichtig: „Lehrer neigen dazu zu glauben, sie könnten Materialien im Unterrichtsgespräch kritisch einordnen. Aber: Das geschriebene Wort sticht das gesprochene in der Regel aus. Selbst wenn also verschriftlichte Inhalte von Lehrern kritisch kommentiert werden, verfangen sie in den Köpfen der Schüler.“ Er würde sich wünschen, dass die Inhalte für Kinder und Jugendliche besonders behutsam ausgewählt würden. Denn für Unterrichtsmaterialien aus der Privatwirtschaft gilt in der Regel, was der bekannte Ökonom Milton Friedman mal gesagt hat: There ist no such thing as a free lunch.