Beeinflussen unternehmensnahe Stiftungen und Verbände mit tendenziösen Unterrichtsmaterialien die ökonomische Bildung an deutschen Schulen? Recherchen des Bielefelder Soziologen Reinhold Hedtke legen diesen Verdacht nahe. Wie weit der Einfluss der Lobby reicht und wie er sich beschränken ließe, erläutert der Forscher im Interview.
Welchen Einfluss nehmen Wirtschaft, Politik und Wissenschaft auf die ökonomische Bildung an Deutschlands Schulen? Einen zunehmenden, sagt der Bielefelder Soziologe Reinhold Hedtke. In einem im Frühjahr publizierten Arbeitspapier beschreibt er gemeinsam mit seiner Kollegin Lucca Möller ein Netzwerk aus Wirtschaftsverbänden, unternehmernahen Stiftungen, Instituten und Initiativen, das die ökonomische Schulbildung in Richtung eines wirtschaftsliberal-konservativen Denkens zu beeinflussen suche. Wirtschaftslobbyisten und -didaktiker, so Hedtke, bildeten „ein bestens finanziertes politisch-pädagogisches Netzwerk“, das die „Interessen der privaten unternehmerischen Wirtschaft“ in den Schulunterricht trage. Kritische Sichtweisen dränge dieses Netzwerk an den Rand. Den öffentlichen Bildungsauftrag vermische es mit privaten Geschäftsinteressen. Hedtke, der an der Universität Bielefeld Didaktik der Sozialwissenschaften und Wirtschaftssoziologie lehrt, erklärt im Interview, worauf er seine Beobachtungen stützt – und was sich seiner Ansicht nach ändern muss.
Herr Prof. Hedtke, in Ihrem Arbeitspapier „Wem gehört die ökonomische Bildung?“ beschreiben Sie ein Netzwerk aus Wirtschaft, Politik und Forschungsinstituten, das die ökonomische Bildung an Schulen in seinem Sinne zu beeinflussen versucht. Wie agiert dieses Netzwerk und wer steckt dahinter?
Hedtke: Vorweg: Das „Netzwerk“, das ich beschreibe, ist kein von zentraler Stelle aus aufgebauter oder kontrollierter Verbund von Wissenschaftlern und Verbänden, keine Gruppe von Verschwörern. Das Netzwerk, das ich und meine Kollegin Lucca Möller skizzieren, ist loser. Es hat sich durch einzelne Aktivitäten gefunden, teils durch gezielte Kooperationen und Projekte. Ich glaube nicht mal, dass es gemeinsam formulierte Ziele verfolgt – wohl aber, dass es einen gemeinsamen Blick auf Schule hat: Dass dort nämlich oft nicht wirtschafts-, unternehmens- und arbeitgeberfreundlich unterrichtet wird. Sei es aufgrund der Schulbücher, sei es aufgrund der Einstellungen der Lehrkräfte.
Dieses Netzwerk setzt sich für eine wirtschaftsfreundlichere Schule ein?
Hedtke: Genau, es möchte eine grundsätzliche Umorientierung in diese Richtung. Die Mitglieder dieses Netzes haben ähnliche Vorstellungen davon, wie das Wirtschaftssystem und die Wirtschaftspolitik aussehen sollen. Und sie versuchen diese Vorstellungen in die Schulen zu tragen: Das Wirtschaftsverständnis der Schülerinnen und Schüler in Richtung der Werte und Positionen zu beeinflussen, die man selber für richtig hält.
Wer steckt dahinter?
Hedtke: In erster Linie die Arbeitgeberverbände, das Institut der deutschen Wirtschaft Köln, die in ganz Deutschland präsente Bundesarbeitsgemeinschaft Schule und Wirtschaft der Arbeitgeberverbände. Stützen können sich diese Gruppen auf die Industrie-, Handels- und Handwerkskammern, die wirtschaftsfreundliche Materialien und Initiativen zusätzlich streuen. So können große Teile der Unternehmen angesprochen werden, die das Netzwerk wiederum beim Entsenden von Experten in den Unterricht oder mit dem Bewerben von genehmen Unterrichtsmaterialien unterstützen.
Multiperspektivität und Kontroversität lehren statt Einseitigkeit
Was ist schlimm daran, wenn wirtschaftsnahe Verbände Unterrichtsmaterialien anbieten? Sozial- oder Umweltverbände machen das auch.
Hedtke: Der entscheidende Punkt ist, dass dieses Netzwerk versucht, den Unterricht mit einseitig gefärbten Schulmaterialien zu beeinflussen. Dafür haben wir viele Beispiele gefunden. Da wird ein sehr konservatives Verständnis der sozialen Marktwirtschaft verbreitet. Da lernen Schüler, dass die Leistungsverteilung über die Märkte schon in Ordnung ist. Dass wir zu viel Sozialstaat haben, zu viele Sozialleistungen. Das ist meines Erachtens nichts anderes als der Versuch ideologischer Einflussnahme.
Haben Sie ein konkretes Beispiel für solche einseitigen Unterrichtsmaterialien?
Hedtke: Die Wirtschaftszeitung „Handelsblatt“ führt beispielsweise mit dem Oldenburger Institut für ökonomische Bildung das Projekt „Handelsblatt macht Schule“ durch. Sie flankiert das mit bundesweit gestreutem Unterrichtsmaterial. Zum Thema Wirtschaftsordnung findet man darin aber nur Informationen von Wirtschaftswissenschaftlern, die eine konservativ-liberale Auffassung von der sozialen Marktwirtschaft haben: Sie propagieren möglichst wenig Staat, möglichst wenig Sozialleistungen, einen möglichst freien Markt. Das aber sind Meinungen, die als Wissenschaft getarnt, verkauft werden. Alternative Positionen, selbst Hinweise darauf, sucht man vergeblich. Ich finde das manipulativ – vielleicht nicht von der Motivation, aber im Ergebnis.
Um solche Manipulationen im Schulunterricht zu vermeiden, wurde bereits in den 1970-er Jahren der so genannte „Beutelsbacher Konsens“ erarbeitet...
Hedtke: ...und dieser Konsens wird durch ein solches Vorgehen unterlaufen. Der Beutelsbacher Konsens verlangt, dass das, was in Wissenschaft und Politik kontrovers diskutiert wird, auch in der Schule kontrovers behandelt wird. Und die Frage, wie die soziale Marktwirtschaft aussehen soll, ist kontrovers: Etwa wie stark der Staat Einkommen und Vermögen umverteilen darf. Mit dem Beutelsbacher Konsens sollten Schülerinnen und Schüler auch die Möglichkeit bekommen, einen eigenen Blick auf Wirtschaft und Politik zu entwickeln. Das ist unmöglich, wenn ihnen nur eine Position vorgegeben wird.
Die Schulen in Deutschland sind chronisch schlecht ausgestattet. Ist es da nicht gut, wenn private Geber mit eigenem Material in die Bresche springen?
Hedtke: Ich akzeptiere ja, dass Lobbyorganisationen ihre Interessen vertreten. Das gehört zur Demokratie. Auch dass sie Unterrichtsmaterialien anbieten ist legitim. Es muss aber dafür gesorgt werden, dass einseitige Unterrichtsmaterialien nicht einfach unkritisch bis zum Klassenzimmertisch der Schülerinnen und Schüler durchgereicht werden.
Wird das in Deutschland nicht kontrolliert?
Hedtke: Eigentlich wäre es Aufgabe der Schulministerien, sicherzustellen, dass einseitige Materialien nicht in den Unterricht gelangen und damit zu einseitigem Wissen, einseitiger Bildung und einseitigen Einstellungen führen. Aber den Schulministerien und -ämtern fehlt dafür der Blick. Oder sie wollen nicht hinschauen, weil sie Konflikte mit großen Unternehmen und einflussreichen Lobbyorganisationen scheuen.
Sieben Lehrerinnen und Lehrer untaugliches Material nicht aus?
Hedkte: Doch, aber eine Garantie dafür gibt es nicht. Lehrkräfte mit sozialwissenschaftlicher Ausbildung können mit einseitigen Manipulationsversuchen sicher kompetent umgehen. Aber: Gerade Fächer wie Politik und Wirtschaft werden sehr oft fachfremd unterrichtet, von ausgebildeten Historikern oder Geografen etwa. Und denen fehlt das sozialwissenschaftliche Rüstzeug, um sich distanziert mit solchen Materialien auseinanderzusetzen. Sie wissen oft schlicht nicht, dass es andere Positionen gibt. Woher auch? Außerdem stehen Lehrerinnen und Lehrer unter enormen Zeitdruck. Das führt häufig dazu, dass sie angebotene Materialien ohne kritische Prüfung einsetzen.
Was folgt daraus für die Ausbildung künftiger Lehrerinnen und Lehrer?
Hedtke: Wir müssen sicherstellen, dass Lehramtsstudierenden in der Volkswirtschaftslehre oder Politikwissenschaft kontroverse Positionen vermittelt werden. Dass sie in ihrer Ausbildung Multiperspektivität und Kontroversität als zentrale didaktische Prinzipien kennenlernen.
Politik und Wirtschaft sollten zusammen gedacht und gelehrt werden
Experten der Finanz- oder Versicherungswirtschaft, die von Unternehmen in den Schulunterricht entsandt werden, können das nicht leisten?
Hedtke: Ich halte solche Entsendungen aus Sicht der Schule für überflüssig. Gut ausgebildete, mit gutem Unterrichtsmaterial ausgestattete Pädagogen können die Sozialversicherung oder die Frage, welche Versicherung ein Schulabgänger braucht, aus eigener Kraft erklären. Versicherungen und Banken drängen ja auch nicht aus Altruismus in die Schulen. Sie wollen Kunden gewinnen, sich bereits Kindern und Jugendlichen mit seriösem Image präsentieren. Schule eignet sich dafür bestens, weil Unternehmen hier den Mantel der Seriosität des staatlichen Schulwesens überstreifen können.
Auf Ihren Unmut trifft auch der Ruf der Finanzindustrie nach einem Schulfach Wirtschaft. Wäre das angesichts der Wirtschaftskrise nicht wünschenswert?
Hedtke: Wirtschaftliche Inhalte wurden in den Schulen in den letzten zehn Jahren schon deutlich ausgeweitet, oft als Fach Wirtschaft/Politik, meistens auf Kosten des Politikunterrichts. Ein eigenständiges Schulfach Wirtschaft würde dazu führen, dass der recht kleine Stundenanteil dieser sozialwissenschaftlichen Fächer auf unterschiedliche Fächer verteilt würde. Wo wäre der Vorteil? In der passgenaueren Lehrerausbildung? Glaube ich nicht. Ein gegenteiliger Effekt träte ein: In der Schulpraxis käme es zu mehr fachfremden Unterricht. Denn Schulen können es sich nicht leisten, zusätzliche Lehrer für Wirtschaft einzustellen. Stellten sie sie ein, müssten sie fachfremd Politik unterrichten. Stellten sie Politiklehrer ein, müssten die fachfremd Wirtschaft unterrichten. Der Zustand wäre also schlechter als der Status quo, denn heute lernen die Studierenden beide Fächer kennen.
Gibt es Stellen, die weniger interessengeleitete Unterrichtsmaterialien für die ökonomische Bildung anbieten?
Hedtke: Mit der Bundeszentrale für politische Bildung haben wir in der politischen Bildung eine Alternative, die einigermaßen ausgewogen arbeitet und teils auch Unterrichtsmaterialien für die ökonomische Bildung bereitstellt. Hilfreich wäre eine staatlich finanzierte Institution, die die ökonomische Bildung vorantreibt – und zwar als ökonomisch-politische Bildung. Politik und Wirtschaft gehören zusammen und sollten deswegen zusammen gedacht und gelehrt werden. Arbeitnehmerverbände, Gewerkschaften oder Verbraucherverbände könnten eine solche Institution mittragen.
Das Bundesverbraucherschutzministerium und der Verbraucherzentrale Bundesverband lassen die Qualität von Unterrichtsmaterialien mit verbraucherrelevanten Themen jetzt von unabhängigen Gutachtern prüfen und bewerten. Die Prüfergebnisse und die Materialien werden Lehrerinnen und Lehrern in einem Online-Materialkompass zur Verfügung gestellt. Taugt dieses Modell Ihrer Ansicht nach auch für weitere Inhalte, ökonomische etwa?
Hedtke: Das Angebot ist zu neu, als dass ich es bewerten könnte. Der Ansatz ist aber meines Erachtens richtig. Wenn wir Lehrern Orientierungshilfe geben wollen, brauchen wir Materialien, die nach transparenten Prüfkriterien evaluiert wurden. Die Gütesiegel, die heute bereits einige Schulbücher zieren, sind oft zweifelhaft. Wir brauchen eine Stiftung Warentest für Unterrichtsmaterialien. Eine Stelle, die mit nachvollziehbaren Kriterien und Gewichtungen sagt, dieses und jenes Material ist aus diesen Gründen und in diesen Dimensionen gut, weniger gut oder schlecht. So könnten Lehrerinnen und Lehrer auch für die vielfältigen Beeinflussungs- und Manipulationsversuche sensibilisiert werden, die sich hinter manchen Materialien verbergen.
Das Interview führte der Berliner Journalist Thomas Wischniewski im Auftrag der Online-Redaktion von verbraucherbildung.de.