Seit Jahren geistert es in der Bildungsdebatte herum, in der Realität gesehen haben es nur wenige: das „Digitale Schulbuch“, das irgendwann das Schulbuch aus Papier ersetzen soll. Dass das passiert, darüber herrscht unter Fachleuten Einigkeit. Darüber, dass der Weg dahin noch lang ist, ebenso. Denn letztlich geht es um eine neue Lernkultur – und um mehr Freiheit im Bildungssystem.
Keine Frage: Das deutsche Schulwesen steckt mitten im digitalen Wandel. Wohl keine Landesregierung, die darauf nicht mit angepassten Lehrplänen reagiert hat. Auch die Kultusministerkonferenz hat schon eine Strategie für die Bildung in der digitalen Welt entwickelt und beim nationalen IT-Gipfel der Bundesregierung im November wird das Thema ebenfalls Schwerpunkt sein.
Trotz alldem konnten sich digitale Schulbücher in deutschen Schulen noch nicht etablieren – obwohl sie den Unterricht in vielen Fächern anschaulicher machen könnten: In Geschichte ließen sich historische Ereignisse als Film in Szene setzen, in Biologie der menschliche Körper mit virtuellen Kamerafahrten, in Physik oder Chemie Experimente in Zeitlupe zeigen. Vieles davon gibt es auch, aber eben nicht als Standard. Der ist immer noch das Schulbuch aus Papier.
Digitalisierung als „PDFisierung“
Was zunehmend passiert, ist, dass dem klassischen Schulbuch eine digitale Ausgabe in Form eines PDFs zur Seite gestellt wird. „Diese PDFisierung“, sagt der Bildungsexperte Jöran Muuß-Merholz, „ist aber nur ein neuer Übertragungsweg alter Inhalte“. Mit einem digitalen oder gar interaktiven Schulbuch habe das wenig zu tun. Denn dessen Versprechen – Multimedialität, interaktive Elemente, die Einbindung von Video- oder Audiosequenzen – würden nicht eingelöst. Das, so Muuß-Merholz, schafften „heute nur wenige Ausnahmen“. Und dafür gebe es einen schlichten Grund.
„Für die Schulbuchverlage ist diese PDFisierung einfach, billig und sicher“, sagt er. Die Verlage könnten ihre alten Inhalte so unter dem Label „Digital“ noch mal vermarkten. Außerdem umgingen sie ein erneutes Zulassungsverfahren durch die Kultusministerien, da der digitalisierte Inhalt schon eine Prüfung durchlaufen hat. Auch Roderich Henrÿ, Wissenschaftler am Georg-Eckert-Institut, dem Leibniz-Zentrum für internationale Schulbuchforschung, sieht darin neben rechtlichen Fragen einen Hauptgrund für das karge Angebot digital-interaktiver Schulbücher in Deutschland. „Zumindest tragen die Schulbuchverlage das oft so vor.“
Den Verlagen den Schwarzen Peter zuzuschieben, springt indes zu kurz. Schon zum Schuljahr 2012/13 haben rund zwei Dutzend von ihnen gemeinsam mit dem Verband Bildungsmedien die Website www.digitale-schulbuecher.de freigeschaltet, eine Art Online-Bibliothek für elektronische Unterrichtswerke. Gebracht hat es nicht allzu viel. Die Bekanntheit und die Nutzung digitaler Schulbücher steige zwar über alle Schulformen, so eine Erhebung des Cornelsen Verlag aus dem vergangenen Jahr. Die fehlende Ausstattung bremse jedoch den Einsatz. So sei etwa von den deutschen Gymnasien nicht mal jedes zweite mit WLAN ausgestattet.
Anrollender Bildungsmedien-Tsunami
Dass es um die technische Ausstattung deutscher Schulen nicht glänzend steht, ist lange bekannt. Schulbuchforscher Henrÿ spricht von einem „Desaster“. Davon abgesehen aber prophezeit er dem digital-interaktiven Schulbuch Großes. Sein Mehrwert liege „allein schon durch die Vielfalt des Angebotes an Wissensgrundlagen auf der Hand“. Dass dieser Mehrwert heute noch nicht gehoben wird, werde man im Rückblick daher lediglich als „Anfangsprobleme eines innovativen Bildungsmedien-Tsunamis“ deuten, sagt Henrÿ. Und: „Dem digitalen Schulbuch gehört die Zukunft.“
Wie die Zukunft aussehen kann, lässt sich schon an einer Handvoll Beispielen erahnen. Ein vielbeachtetes ist das mBook, ein digitales Schulbuch für das Fach Geschichte, das das Georg-Eckert-Institut im Wettbewerb „Schulbuch des Jahres 2016“ mit einem Sonderpreis für digitale Medien bedacht hat. Es öffne den Geschichtsunterricht hin zur digitalen Welt, loben die Leibniz-Forscher, setze Prinzipien wie Multiperspektivität und Kontroversität glänzend um und spiegle den aktuellen Stand der Forschung wider. Einen „ausgezeichneten Ansatz“ bescheinigt Henrÿ auch dem Projekt „schulbuch-o-mat“, in dem Freiwillige seit 2012 ein digitales Schulbuch für den Bio-Unterricht entwickelt haben.
„Beide Projekte versuchen auf Grundlage bestehender Lehrpläne Grundwissen zu vermitteln und dabei unterschiedliche mediale Angebote auszuloten“, sagt er. Vieles sei dabei noch unfertig – im Sinne von weiteren Entwicklungspotenzialen. Die sieht auch Medienpädagoge Muuß-Merholz, der mit seiner Hamburger Agentur Bildungseinrichtungen dazu berät, wie sie digitale Medien sinnvoll in ihrer Arbeit einsetzen können. „Wirklich innovative Angebote müssen sich vom Format Schulbuch lösen“, sagt er. Schulbuchforscher Henrÿ sieht die Rolle des Schulbuchs in Zukunft eher in der „eines handbuchähnlichen Leitfadens zur Erschießung von Lehrplanvorgaben mit Hilfe unterschiedlicher Quellen“.
Software statt Bücher
Muuß-Merholz schwebt für die Zukunft sogar eine lernende Software vor, die ihre Angebote zur Wissensvermittlung ständig dem individuellen Bedarf der Lernenden anpasst. Unter dem Schlagwort „Adaptive Learning“ werde dieses didaktische Konzept schon diskutiert, allerdings vor allem im Ausland. Das Schulbuch als Format verschwände dann quasi komplett – zugunsten einer Software, die sich je nach Lernsituation verändert. „In Deutschland ist diese Vision allerdings noch nicht richtig angekommen“, sagt er.
Obwohl sie genau das befördern könne, was seit Langem in der Bildungsdebatte gefordert wird: einen binnendifferenzierten Unterricht. Eine Individualisierung des Lernens, die jedem Lernenden immer genau die Übungen anbietet, die er gerade braucht. Mithin also eine neue Lernkultur. Dass es dazu kommt, steht für Muuß-Merholz außer Frage. Die Frage sei nur, wie weit und wie schnell man sich dabei in Deutschland vorantraue. „Das hiesige Schulsystem unterliegt bei Veränderungen einer ganz eigenen Dynamik“, sagt er.
Deutlich wird die zum Beispiel beim Umgang mit offenen Bildungsmedien, sogenannten „Open Educational Resources“ (OER). Also Schulbüchern oder Unterrichtsmaterialien, die sich frei verändern oder erweitern lassen und so eher aktuell bleiben. Sie eröffnen viele Chancen für guten Unterricht – weil Lehrkräfte sie eben nach ihrem Bedarf anpassen und so individuelleres Lernen befördern können. Auch Schulbuchforscher Henrÿ sagt, genau so müssten künftige Schulbücher konzipiert sein. Die Offenheit dieser Materialien werde in der Bildungslandschaft indes immer noch kontrovers diskutiert, „wegen des damit angeblich verbundenen staatlichen Kontrollverlustes“.
Mehr Experimente wagen
Individuelleres Lernen durch interaktive, veränderbare Schulbücher einerseits, andererseits der Wunsch nach einer Qualitätskontrolle. Wie passt das zusammen? „Die Lösung sehe ich nur darin, dass sich die Bildungsbehörden auf offenere Rahmenvorgaben zurückziehen“, sagt Roderich Henrÿ. „Nur mehr Freiheiten und die Möglichkeit des Experimentierens bringen uns voran.“ Das heiße auch, die Lehrerinnen und Lehrer von der Androhung rechtlicher Konsequenzen zu befreien, wenn sie Schulbücher nach ihrem Bedarf anpassen – und nicht die Keule des Urheberrechtes zu schwingen.
Das sieht auch Muuß-Mehrholz so. Auch er wirbt für mehr Experimente und mehr Freiheit in der deutschen Bildungslandschaft. „Alle Beteiligten – von den Verlagen bis zu den Lehrkräften – müssen auch mal Fehler machen dürfen“, sagt er. Das sei im deutschen Schulwesen derzeit aber nicht vorgesehen. Obwohl man aus Fehlern Wichtiges lernen könne. „Bei der PDFisierung alter Inhalte kann man nicht viel falsch machen“, sagt er. „Innovatives schafft man so aber auch nicht.“ Hinzu komme, dass mehr Experimentierfreude auch nichts koste. Im chronisch klammen Bildungssystem sei das ja auch ein Wert.