Wie sieht eine zeitgemäße Ernährungs- und Verbraucherbildung aus? Die Antwort liefern Kirsten Schlegel-Matthies, Professorin der Fachdidaktik Hauswirtschaft an der Universität Paderborn, und ihre Co-Autor:innen in ihrer jüngsten wissenschaftlichen Buch-Veröffentlichung „Konsum – Ernährung – Gesundheit. Didaktische Grundlagen der Ernährungs- und Verbraucherbildung“. Was ihr Ansatz für den Unterricht bedeutet, erklärt Schlegel-Matthies im Interview.
In der Zusammenfassung zur Veröffentlichung heißt es, dass Sie und Ihre Co-Autor:innen ein Konzept für eine wissenschaftlich fundierte, zeitgemäße Ernährungs- und Verbraucherbildung vorlegen. Wodurch zeichnet sich eine solche aus?
Unser Konzept basiert auf dem Vorgänger-Projekt REVIS – Reform der Ernährungs- und Verbraucherbildung in Schulen, das 2005 erschienen ist. Wir hatten seitdem zahlreiche Erfahrungen sammeln können und gemerkt, dass wir das alte Konzept überarbeiten müssen.
Eine zeitgemäße Ernährungs- und Verbraucherbildung hat die Befähigung zur Analyse und Reflexion zum Schwerpunkt – das ist ganz zentral. Wir wollen die Lernenden befähigen, in entsprechenden Handlungssituationen eine für sie angemessene Entscheidung treffen zu können. Denn wir haben den Eindruck, dass das immer wichtiger wird. Das Leben ist komplex und kompliziert. Die Lernenden müssen sich in einer Welt orientieren, in der von allen Seiten Einflüsse auf sie eindringen, Anforderungen an sie gestellt werden, sie auch immer wieder mit Widersprüchen und Ambiguitäten umgehen müssen. Da ist es sehr wichtig, Situationen analysieren und reflektierte Entscheidungen treffen zu können.
Wie lässt sich das im Unterricht fördern?
Bei der didaktischen Konzeption geht es darum, dass wir darauf aufmerksam machen, dass die didaktische Umsetzung im Unterricht Angebote machen muss, die Zeit zum Nachdenken bieten. Es müssen immer wieder Lernanlässe geschaffen werden, die nicht nur die Reproduktion von Wissen fördern, sondern die Auseinandersetzung mit Problemen. Das ist der Kern einer problemorientierten Ernährungs- und Verbraucherbildung.
Im Vergleich zum erwähnten Vorgängermodell gehören nun zehn Bildungsziele zum Konzept: Wieso?
Wir haben damals beim REVIS-Projekt neun Bildungsziele definiert, mit der Zeit aber gemerkt, dass uns ein Bildungsziel fehlt, dass Ernährungs- und Verbraucherbildung in einen gesellschaftlichen Kontext setzt. Wir leben ja in einer Gesellschaft und die Gesellschaft prägt die Art und Weise, wie wir Konsum gestalten, welche Strukturen uns dafür zur Verfügung stehen, welches Angebot vorhanden ist, wie Dinge produziert und vermarktet werden. Darum war es uns wichtig, ein zehntes Bildungsziel einzuführen, um deutlich zu machen, dass Ernährungs- und Verbraucherbildung nicht nur das Individuum allein betrifft, sondern immer in einem größeren Kontext gesehen werden muss.
Ernährungs- und Verbraucherbildung existiert so nicht als Unterrichtsfach: Für welche Lehrkräfte ist die Veröffentlichung von Interesse?
Unser Fach ist originär das Fach Hauswirtschaft; das heißt aber in jedem Bundesland anders. Ich denke, sie kann darüber hinaus auch für den Sachunterricht der Grundschule interessant sein, in Ansätzen für das Fach Ernährungslehre an Gymnasien und Gesamtschulen. Die Fachbezeichnung ist insgesamt schwierig, denn die Ernährungs- und Verbraucherbildung ist ja nicht einer Disziplin zuzuordnen. Allein die Ernährungsbildung hat einerseits einen eigenen Stellenwert, ist aber andererseits auch immer Handlungsfeld der Verbraucherbildung: Nahrungsmittel werden über den Markt erworben, die Produktion spielt mit Blick auf Lieferketten und Lebenszyklen eine Rolle. Deshalb kann im Grunde jeder, der sich mit Verbraucherbildung beschäftigt, das eine oder andere aus dem Buch ziehen und es in seinen Unterricht – sei es im Fach Wirtschaft oder Sozialwissenschaft – integrieren.
Worauf sollten Lehrkräfte achten, wenn sie Inhalte der Ernährungs- und Verbraucherbildung vermitteln wollen?
Wichtig ist, dass sie darauf achten, dass sie nicht auf der Ebene der Wissensreproduktion stehen bleiben, sondern in die Anbahnung von Kompetenzen kommen, bis zur Analyse und Reflexion von Problemsituationen. Es geht auch darum, Unterricht so zu gestalten, dass Schülerinnen und Schüler motiviert werden, sich mit Themen auseinanderzusetzen, und erkennen, dass sie etwas bewirken können, aber nicht allein die Welt mit ihrem Handeln retten müssen.