Jeder vierte junge Mensch zwischen 14 und 29 Jahren in Deutschland ist mit seiner psychischen Gesundheit unzufrieden. Das zeigt die Trendstudie „Jugend in Deutschland – Winter 2022/23“ der Jugendforscher Simon Schnetzer und Professor Klaus Hurrelmann. Welche Rolle die Schule dabei spielt, hängt von der individuellen Bildungseinrichtung ab: Sie kann zum psychischen Stress von Schüler:innen beitragen oder aber die mentale Gesundheit unterstützen, sagt Professor Thomas Bock. Mit dem Verein „Irre menschlich Hamburg“ realisiert der ehemalige Leiter der Ambulanz für Psychosen und Bipolare Störungen am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf unter anderem Präventionsprojekte – auch an Schulen.
Seit mehr als 20 Jahren organisiert der Verein „Irre menschlich Hamburg“ in der Hansestadt Informations-, Begegnungs- und Präventionsprojekte zu allen Aspekten von seelischer Gesundheit und psychischer Erkrankung, um Vorurteilen entgegenzuwirken. Schon zu Beginn der Vereinstätigkeit lag der Fokus dabei auf der Arbeit mit Schüler:innen der Hamburger Schulen. „Es geht uns darum, dass Kinder und Jugendliche erkennen, dass psychische Krisen zum Menschsein dazugehören wie physische Erkrankungen“, erklärt Thomas Bock. Diese Normalisierung soll nicht nur mehr Toleranz im Umgang mit anderen fördern, sondern auch die Hemmschwelle senken, eigene psychische Krisen wahrzunehmen und sich im Ernstfall Hilfe zu holen.
Der vielversprechendste Weg, eine solche Normalisierung zu erreichen, seien Begegnungsprojekte, in denen betroffene Personen von ihren Krisen berichten, so die Erfahrung des Psychotherapeuten. „Das hat eine ganz andere Wirkung, als wenn ich nur aus der Fachperspektive erzähle“, sagt Bock. Den persönlichen Austausch nutzten Schüler:innen oftmals auch, um Fragen zu stellen, die sie selbst betreffen. „Das erkennt man dann an Formulierungen wie ‚ein Freund von mir‘ oder ‚mein Bruder‘.“ Mittlerweile folge daher auf den eigentlichen Unterrichtsbesuch eine zusätzliche Sprechstunde, um den Schüler:innen die Gelegenheit zu geben, ihre persönlichen Fragen in einem geschützteren Rahmen zu stellen.
Lokale Unterstützung
Begegnungsprojekte leben von dem unmittelbaren Kontakt zu den betroffenen Personen. Professor Thomas Bock empfiehlt Lehrkräften außerhalb Hamburgs daher, sich zur Umsetzung Unterstützung vor Ort zu suchen. Diese bietet etwa der Leipziger Verein „Irrsinnig menschlich“. Seit über 20 Jahren organisiert er Präventionsangebote zur psychischen Gesundheit. Das Programm „Verrückt? Na und! Seelisch fit in der Schule“ richtet sich an Schüler:innen ab 14 Jahre und ihre Klassenlehrkräfte. Ähnlich dem Vorgehen von „Irre menschlich Hamburg“ setzt der Verein dabei auf Begegnungen mit persönlich betroffenen Personen. Regionalgruppen finden sich bereits in zwölf Bundesländern.
Begegnungsprojekte lassen sich laut Professor Bock sowohl nutzen, um den Themenkreis „psychische Erkrankung“ allgemein zu behandeln als auch um gezielte Themen wie Suchterkrankung oder Essstörungen aufzugreifen. Die meisten Begegnungen, die der Verein organisiert, finden in den Klassen 7 und 8 statt. In diesen Jahrgängen gebe es in Hamburg einen Lehrplanzusammenhang. Thomas Bock kann aber auch von positiven Erfahrungen im Grundschulbereich berichten. Einen altersangemessenen Zugang zum Thema ermögliche dabei das Kinderbuch „Die Bettelkönigin“, das er mit Unterstützung speziell für diesen Zweck verfasst hat. Lehrkräften, die ein Begegnungsprojekt im Schulalltag realisieren wollen, empfiehlt er, den Unterrichtsbesuch mindestens in einer Doppelstunde vor- sowie nachzubereiten. Der Verein unterstütze dabei durch Beratung und altersgerechte Materialien. „Für die Umsetzung eignet sich jeder Fachunterricht, denn jedes Fach hat bekannte Persönlichkeiten mit psychischer Erkrankung.“ So war beispielsweise der US-Mathematiker und Nobelpreisträger John Nash, bekannt auch durch den Spielfilm „A Beautiful Mind“, an Schizophrenie erkrankt.
„Begegnungsprojekte haben auch eine atmosphärische Wirkung“, sagt Professor Bock. Die Schüler:innen seien laut ihren Lehrkräften im Anschluss solidarischer miteinander. „Das hält natürlich nicht für immer an, aber es zeigt, wie kraftvoll die Botschaft ist, dass Menschen empfindliche Wesen sind.“ Neben der aktiven Präventionsarbeit im Unterricht könnten Schulen auf vielfache Weise zusätzlich zur psychischen Gesundheit beitragen, zum Beispiel, indem sie den gesellschaftlichen Leistungs- und Konkurrenzdruck nicht weitergeben. In der Ganztagsschule sieht Bock zudem die Chance, Schüler:innen resilienter gegen Stress zu Hause zu machen – sofern der Ganztag ein sozial-unterstützendes Umfeld biete. Von Lehrkräften wünscht er sich, dass sie ihr eigenes Bauchgefühl beachten. „Lehrer haben feine Antennen dafür, wie es ihren Schülern geht.“ Sollten sie sich Sorgen machen, sei es wichtig, das Gespräch mit dem jeweiligen Kind zu suchen. „Sie können ihre Bedenken formulieren, nachfragen und wenn notwendig, die Brücke zu einer anderen Hilfsstelle bauen, etwa zum Beratungslehrer oder Schulpsychologen.“ Eine Diagnose sei nicht gefragt, nur Mitgefühl.